VUCA- reseliente Organisation
Macht Rhizom, nicht Wurzeln, pflanzt nichts an! (…)
Seid nicht eins oder viele, seid Vielheiten! (…)
Seid schnell, auch im Stillstand! (…)
Lasst keinen General in euch aufkommen!
Diese Imperative formulieren 1980 der Psychiater Félix Guattari und
der Philosoph Gilles Deleuze in ihrem kryptischen Mammutwerk:
Tausend Plateaus, das heute eines der wichtigsten Referenzwerke der
zeitgenössischen Philosophie ist.
Deleuze und Guattari nutzen eine botanische Analogie, um zwei
verschiedene Denkhaltungen und Organisationsformen zu
unterscheiden: Wurzel versus Rhizom.
Die Wurzel: Eine dem Wurzeldenken verpflichtete Organisationsform
bildet stets eine klare Struktur und Hierarchie aus. Sie hat ein
Zentrum und ist auf Dauer ausgelegt. Ihr Wachstum geschieht
vertikal: Wie beim Baum alle Wurzelstränge in einem zentralen
Stamm zusammenlaufen, sind in der Wurzelorganisation alle
Funktionslinien auf die oberste Führung hin ausgerichtet. Ein
Wurzelsystem ist nicht teilbar, da jeder Wurzelstrang zum Überleben
des anderen notwendig ist. Wer einen Baum an einer bestimmten
Stelle kappt, tötet damit alle verbundenen Verästelungen – im
schlimmsten Fall sogar den gesamten Baum. Analog dazu können
einzelne Teile einer Wurzelorganisation nicht unabhängig von der
Zentrale und den anderen Funktionen existieren. Das Wurzeldenken
ist stets auf den originalen Ursprung, das stabile Sein, den
beständigen Zustand und die eigene Einheit fokussiert.
Dem entgegen setzen Deleuze und Guattari eine andere botanische
Lebensform, die weniger bekannt ist:
Das Rhizom: Rhizome sind Gewächse mit einem sogenannten
Sprossachsensystem. Im Gegensatz zu den meisten anderen
Pflanzen, bei welchen Wurzel, Spross und Früchte eindeutig
differenzierbar sind, bilden sich Rhizome als Wurzelstengelwerke aus,
in welchen Trieb und Wurzel ununterscheidbar sind. Bekannte
Rhizompflanzen sind z.B. Bambus, Ingwer oder Giersch. Sie
vermehren sich vegetativ und damit schnell und leicht: Unter der
Oberfläche wuchern sie weitflächig – an einer völlig unerwarteten
Stelle bricht dann plötzlich ein Schössling hervor. Eine rhizomatisch
orientierte Organisation fokussiert sich entsprechend auf das
weitläufige Beziehungsgefüge und Netzwerk all ihrer Mitglieder. Sie
hat kein Zentrum – auch weil sie immer nur für den Moment und in
der Situation stabil ist. Ein organisatorisches Rhizom ist ständig im
Wandel, baut sich laufend um und neu auf, wuchert enorm schnell
und horizontal. Da es aus singulären Teilchen besteht, die sich ständig
in veränderten Konstellationen neu verknüpfen können, kann man
ein Rhizom jederzeit an beliebiger Stelle kappen – es reagiert auf den
Schnitt umgehend und bildet sich zu einer weiterhin
überlebensfähigen Struktur um. Rhizomorganisationen fokussieren
sich auf ihr Potenzial, begreifen sich selbst im ständigen Wandel,
konzentrieren sich auf das Tun und Werden und feiern ihre Vielfalt
und Heterogenität.
Was hat das mit unserer Wirtschaftswelt im aufgeladenen VUCA-
Ausnahmezustand zu tun? Schon länger plädieren
Organisationsethnologie und Unternehmenskulturforschung dafür,
neben der offiziellen Unternehmensstruktur, -hierarchie und -
prozesslandschaft auch die impliziten Spielregeln von informellen
Landkarten der Unternehmenskultur mit in den Blick zu nehmen.
Diese werden meist informell gebildet, etwa im old-boys-network, im
Klatsch an der Kaffeemaschine, beim Lästern vor dem Kopierer, in
den Gesprächen während der Zigarettenpause oder in den
Tischgemeinschaften der Kantinen. Hier wirkt dann das verborgene
Rhizom der Unternehmenskultur, das nicht selten mit der offiziellen
Wurzelhierarchie im Widerstreit liegt.
Vor dem Hintergrund der VUCA-Diskussion kann man jedoch noch einen
Schritt weiter gehen mit folgender Hypothese:
Mit ihrem Bild des Rhizoms stellten Deleuze und Guattari bereits vor
mehr als 30 Jahren eine Denkhaltung und Organisationsphilosophie
bereit, mit der sich besser auf Volatilität, Unsicherheit, Complexität und
Ambiguität reagieren lässt. Da Rhizome per se kontinuierlich im Wandel
sind, können sie sich weit besser anpassen als Wurzeln. Sie können
damit höhere Agilität beweisen. Ein rhizomatisches Beziehungsgeflecht
denkt grundsätzlich interaktiv und nutzt Schwarmintelligenz – es kann
seine eigene Heterogenität und Komplexität damit zum eigenen Vorteil
nutzen. Netzwerke kommunizieren stets rhizomartig: Botschaften
wuchern in ihnen in einer Geschwindigkeit, die in Hierarchien nie
erreicht werden kann. Eine solche virale Kommunikation kann sich als
schneller, effektiver und reaktionsfähiger erweisen, als diejenige, die die
»offiziellen« Kanäle nutzt. Ein rhizomatisch orientierter Organismus, der
in sich Vielfältigkeit birgt und bewahrt, reagiert wesentlich toleranter und
souveräner gegenüber Ambiguität, als eine geschlossene, homogene
Einheit, die nur einen Weg kennt.
Mit dem Rhizomgedanken lässt sich Organisation als lebendiger
Organismus denken. Dies entspricht exakt den Plädoyers der derzeit
erscheinenden neuen Ansätze der an Unternehmen orientierten
Organisationsentwicklung:
Connected Company: Dave Gray stellt 2012 die Divided Company und die
Connected Company gegenüber: Erstere ist durch Hierarchie,
Arbeitsteilung, Spezialisierung, Stabilität und Vorhersehbarkeit in
stabilen Umfeldern charakterisiert. Letztere zeichnet sich durch
Holarchie (ganzheitliche Eigenständigkeit der Teile), fraktalen
Arbeitseinheiten, Autonomie, Flexibilität und Adaptivität an unsichere
Umwelten aus. Die Connected Company besteht aus einer
serviceorientierten Plattform, von der aus sogenannte Pods nicht
gesteuert, sondern in ihren unabhängigen (aber vernetzten) Aktionen
mit Fokus auf den Kunden optimal unterstützt werden.
Communities: Jörg und Rüdiger Müngersdorff plädieren ebenfalls 2012
dafür, das Potenzial der Communities, die jenseits der Kästchen und
Linien der Organigramme jede Organisation wild »durchwegen«, für
Organisationsentwicklung und Change Management zu nutzen. Hierzu
macht es Sinn, die Bridgepeople der Organisation
zusammenzuschließen. Damit werden die Netzwerkbroker bezeichnet,
die gut vernetzt Zugang in mehrere Communities haben, in welchen
einer Lagerfeuergemeinschaft gleich über Geschichten kommuniziert
wird.
Beta-Organisation: Niels Pfläging nennt seinen Entwurf einer
Organisation, die mit Komplexität umgehen kann, Beta-Organisation
(2013). Während sich »alte« Alpha-Unternehmen auf Abhängigkeiten,
Abteilungen, Management, Pflichterfüllung, Maximierung, Anreiz,
Planung, Bürokratie, Status, Macht und Anweisung verlassen, fokussiert
sich eine Beta-Organisation auf Sinnkopplung, Zellen, Führung,
Ergebniskultur, Passgenauigkeit, relative Ziele, Teilhabe, Vorbereitung,
Konsequenz, Zweck, Intelligenz und Marktdynamik.
Light Footprint Organization: Vor kurzem hat auch Charles-Edouard Bouées
die Light Footprint Organization skizziert (2013). Damit diese sich optimal
an ihr sich schnell veränderndes Umfeld und die Fluidität der Ereignisse
anpassen kann, muss sie sich modular aufbauen als lose Allianz von
weitgehend autonomen, multidisziplinären Teams. Bouée plädiert dabei
für mehr Dezentralisierung, Pragmatismus, Opportunismus und
Offenheit für Experimente. Gut ausgebildete und optimal ausgestattete
kleine und agilen Team, die unter dem Paradigma der Reziprozität
intensiv kooperieren, sieht er als Erfolgsgaranten für Unternehmen, die
auch zukünftig in der VUCA-Welt bestehen können. In den
Unternehmenskontext übersetzt dürfte das heißen:
„Netzwerk-Interaktion, Diversität, Agilität sowie die Reduktion autoritärer
Strukturen und Mindsets sind die wichtigsten Schlüssel zur VUCA-
resilienten Organisation!“
Aus: http://www.synnecta.com/wuchernder-organismus-statt-starrer-
maschine-die-vuca-resiliente-organisation-vuca-handling-iii/
* Holarchie: Arthur Koestler führt in seinem Werk „Das Gespenst in der
Maschine“ den Begriff der Holarchie ein. Unter ihr ist ein System aus
Holons zu verstehen. Diese verfolgen durch Kooperation ein
gemeinsames strategisches oder operatives Ziel. Die Holarchie stellt
Grundregeln auf, in denen die einzelnen Holons agieren und beschränkt
somit ihre Selbstbestimmung. Trotz der Beschränkung ist die Autonomie
der Holons zentraler Bestandteil der Organisationsstruktur.
Aus: http://www.vorlesungen.info/sites/default/files/Gespenst.pdf